Wenn Liebe lauter wird als die Geschichte
Es gibt Momente, in denen alte Muster sich zeigen – laut, fordernd, unerbittlich. Früher bin ich hineingesprungen, habe mich verteidigt, argumentiert, gekämpft. Diesmal blieb ich stehen. Und genau dort begann etwas, das ich nicht erwartet hatte.
Ich hatte eigentlich gedacht, wir hätten ein ruhiges Wochenende vor uns. Ein Familienbesuch, ein Geburtstag, Lachen, Essen, ein bisschen Chaos – wie es eben ist, wenn viele Menschen zusammenkommen. Und tatsächlich war es das auch, bis plötzlich wieder etwas kippte.
Ich weiß nie genau, wann dieser Punkt erreicht ist. Es ist, als würde sich die Luft verändern. Erst kaum spürbar, dann auf einmal dicht. Ein einziger Satz genügt – und etwas in ihm gerät außer Kontrolle, wie ein Strudel unter glatter Oberfläche.
Früher hätte ich mich sofort verteidigt. Ich kenne diesen Reflex zu gut. Wenn jemand laut wird oder ungerecht, spannt sich in mir alles an. Mein Herz schlägt schneller, der Atem wird flach, und etwas in mir sagt: Jetzt musst du dich wehren. Es ist ein alter, tiefer Instinkt – geboren aus Kindheitserfahrungen, in denen Schweigen keine Option war. Ich habe gelernt, laut zu werden, wenn es laut wurde. Stark zu sein, wenn jemand tobte. Niemals klein beizugeben.
Das hat mich lange geschützt, aber auch zermürbt. Denn nach jedem dieser Gefechte blieb ein Nachhall – eine Erschöpfung, die sich nicht erklären ließ. Als hätte ich jedes Mal ein Stück meiner Lebenskraft mit geopfert, um „recht zu behalten“.
Doch diesmal war es anders. Ich spürte wieder dieses alte Anziehen, diesen Sog, der mich hineinziehen wollte in dieselbe Spirale aus Lautstärke, Schmerz und Schuld. Aber ich blieb stehen. Ich sah den Strudel – und ich sah mich selbst. Vor allem aber sah ich ihn.
Ich sah ihn nicht mehr als den, der gerade schreit, sondern als den Menschen, der dahinter ist. Ich spürte Mitgefühl, nicht als Idee, sondern körperlich.
Ich konnte es sogar aussprechen. Ich sagte: „Ich hab dich lieb.“ Und ich meinte es. Ich sagte auch: „Ich bewundere dich.“ Er war völlig still. Für einen Augenblick war alles still.
Es war, als würde dieser Satz den Strudel zum Stillstand bringen. Kein Widerstand, keine Verteidigung – nur Präsenz. Und ich merkte, wie tief Heilung eigentlich gehen kann, wenn man nicht mehr auf der alten Bühne kämpft, sondern einfach im eigenen Bewusstsein bleibt.
Vielleicht ist das der Moment, in dem Wandlung wirklich beginnt: Wenn Liebe lauter wird als die Geschichte, die man sich gegenseitig immer wieder erzählt.